Ausgabe Dezember 2022, Januar und Februar 2023

Coverbild des Gemeindebriefes

Du bist ein Gott, der mich sieht!
(1. Mose 16, 11)

Hagar spricht hier zu Gott, verstoßene Nebenfrau Abrahams, die als biblische „Leihmutter“ Ismael gebar. Reden wir uns den Kontext nicht schön, er ist es nicht. Auch Abrahams gerühmte Frau Sarah spielt eine unerfreuliche Rolle, man könnte sie schlicht als Intrigantin bezeichnen. Wem die Erzählung nicht mehr gegenwärtig ist, der lese sie nach, sie ist es wert, so wenig erbaulich sie auch sei.

Sarahs Handeln mag menschlich-psychologisch verständlich sein, moralisch deshalb noch lange nicht. Abraham bedeckt sich auch nicht mit Ruhm, er erinnert an eine von der holden Weiblichkeit hin- und hergeschobene Schachfigur, passiv und hölzern.- Hagar steht buchstäblich in der Wüste allein, real wie menschlich. Sie ist ihrerseits kein Unschuldslamm, sie blickt „ihre Herrin geringschätzig an“, wie es heißt, als sie schwanger wird, sie fühlt sich der Unfruchtbaren überlegen. Weiber unter sich, würde mancher sagen, aber es geht hier nicht um das biologische Geschlecht, sondern allgemein um menschliche Engherzigkeit, der Gottes unendliche, unverdiente Güte gegenübersteht. Ein Engel holt Hagar aus der Wüste. Seine Prophezeiung ist eher unerquicklich; er verheißt die Geburt Ismaels und gleichzeitig ewigen Unfrieden zwischen Ismael und seinen Halbgeschwistern. Man könnte sich an das Verhältnis von Juden und Moslems erinnert fühlen, denn im Islam spielt Ismael eine große Rolle. Aber Hagar kehrt zu ihrer nicht besonders geschätzten Herrin zurück, sie „unterwirft sich ihr“, wie es heißt. Keine schöne Vorstellung, für die ganze Familie nicht. Von Liebe oder familiärer Wärme ist da keine Rede.

So weit, so heikel. Aber hier steht ein Wort der Verstoßenen: Du bist ein Gott, der mich sieht! Interessanterweise erwähnt die Bibel da gleich zwei menschliche Sinne: „Ismael“ heißt „Gott hört“, weil Gott Hagars Notschrei in der Wüste hörte, und für Hagar ist Gott einer, der sie sieht. Er sieht uns, er hört uns. Ist das nicht der schönste vorstellbare Zuspruch? Die antiken Götter sind unerfreuliche Zuschauer, die sensationsgierig auf die Arena blicken, in der die Menschen sich prügeln. Ab und zu greifen sie ein und machen mit voller Absicht alles noch viel schlimmer. Unser Gott, Vater Jesu Christi, ist ein Gott, der uns sieht, gerade wenn wir einsam und unglücklich sind, egal, was wir zuvor uns haben zuschulden kommen lassen. Er sieht uns! Nein, nicht wie der klassische Schutzmann an der Straßenecke, der von Amts wegen alles sieht und die bösen Buben belangt; so wurde Gott leider viel zu oft mißverstanden und als allmächtiger Kontrolleur dargestellt, vornehmlich den Kindern: klarer Verstoß gegen das Gebot zum Namensmißbrauch. Er sieht uns, und damit fühlt er mit uns. Das gibt es nur einmal auf der Welt, das ist der Gott Abrahams (ja, eben der!), der Gott Isaaks, der Gott Jakobs, der Gott, der in Christus Mensch wurde und sich selbst drangab. Das ist die unendliche Liebe, freilich eine strenge Liebe, weit weg vom Herze-Jesulein-Schmus, der zu Weihnachten oft genug Mode ist, leider auch auf mancher Kanzel, sofern dieses Fest ohnehin nicht nur als unbestimmte Friede-Freude-Eierkuchen-Fete abgehandelt und kommerzialisiert wird, eine schwere Verfehlung unserer so herrlich durchsäkularisierten Moderne.

Wir wandern durch dunkle Zeiten. Es herrscht Krieg in Europa, wo wir doch meinten, wir hätten den Frieden dauergepachtet. Wir merken nun allenthalben, daß unser Wohlstand, ebenfalls dauergepachtet, keineswegs unantastbar ist. Das Jammern und Klagen, hierzulande oft genug auf hohem Niveau, ist unüberhörbar, eine Besinnung auf Gottes Wort bleibt aus. Wir haben uns davon wohl seit rund dreihundert Jahren schon viel zu weit entfernt. Es lebt sich bequemer ohne Gott. An die Wand des Theologischen Seminars in Heidelberg hatte zu Beginn meiner Studienzeit, vor rund vierzig Jahren, eine fremde Hand gemalt: „Geld allein macht nicht glücklich, aber es beruhigt. Gott allein macht glücklich – aber er beunruhigt!“ Ich habe selten eine so treffende Wandschmiererei gelesen. Weihnachten und Jahreswechsel sollten auch bedeuten, sich von Gott beunruhigen zu lassen, von Gott, nicht von Menschen, die sich für allmächtig halten und doch nichts sind als ganz kleine, zerbrechliche Kreaturen mit der Widerstandskraft einer Stubenfliege. Gott sieht uns. Das kann und darf trösten. Es heißt aber auch, daß wir ihn unsererseits wahrnehmen sollten. Wir erfassen ihn nicht, nein. Aber achtsam sein könnten wir schon. Hagar ist achtsam, als der Engel zu ihr spricht. Und sie versteht schneller als so mancher hehre Theologieprofessor oder Kirchenfunktionär, der da meint, er wisse schon längst alles. Ja, Gott sieht uns. Aber wenn wir uns unsererseits weigern, ihn zu suchen, weil wir nicht beunruhigt sein wollen, dann wird uns anderes beunruhigen. Und das ist kein schöner Gedanke. Lassen wir uns beunruhigen, so dürfen wir auch feiern, mit allem, was wir mögen, mit Kerzen und Räucherwerk, mit Pfefferkuchen und Tannengrün!

In diesem Sinne ein gesegnetes Fest und ein gutes, behütetes neues Jahr

wünscht Ihnen
Ihr Anselm Babin