Ausgabe Dezember 2021 / Januar / Februar 2022

Foto: Lotz

Liebe Leserinnen, liebe Leser,

„Wer zu mir kommt, den werde ich nicht abweisen.“ Bei Luther heißt es im Text unserer Jahreslosung 2022 ursprünglich: „hinausstoßen“, für meine Begriffe viel bildkräftiger und treffender als das reichlich blasse, nunmehr gewählte Wort, das ein wenig nach Bürokratie schmeckt: Die Klage wurde abgewiesen. Jesus spricht hier in Vollmacht zum Volk, zu seinem, dem jüdischen Volk. Im Streitgespräch mit Jesus erinnern sich die Menschen an die Erzählungen der Heiligen Schrift vom Manna in der Wüste, der Nahrung, die vom Himmel fiel. Jesus erklärt nun, er sei das „lebendige Brot.“ Kein Wunder, dass ihn alle Welt zunächst, die eigenen Jünger eingeschlossen, gründlich missversteht, ja, der Evangelist weiß sogar zu berichten, dass einige Jünger ihren Herrn verlassen – das ist ihnen alles zu kompliziert, zu anstößig, zu fremd.

Wir sind mittlerweile in einer ähnlichen Lage. Die Unwissenheit zum Thema Christentum, auf einem durch und durch christlich geprägten Kontinent, ist, milde ausgedrückt, frappierend. Eine Minderheit weiß über grundlegende Dinge unserer Religion Bescheid, und selbst etliche der Kirche einigermaßen bewusst Zugehörige meinen, jene Fragen, über die unsere Ahnen im Glauben grübelten und heftig stritten, siehe Dreieinigkeits-Lehre, siehe Zwei-Naturen-Lehre, seien doch „olle Kamellen“, nebensächlich und aus der Zeit gefallen. Wichtig sei, dass man ein guter Mensch ist und leidlich nett zum Nächsten, dass man spendet und vielleicht nicht nur am Heiligen Abend den Gottesdienst besucht.

Da sind dann auch Texte wie das Gleichnis vom Barmherzigen Samariter oder vom Verlorenen Sohn viel beliebter als solche sehr philosophisch-abstrakt wirkenden Reden Jesu, darüber hinaus von einem Evangelisten, den fast alle wissenschaftlichen Ausleger „spät datieren“, also für einen Nachkömmling halten, der sich das meiste seiner Jesus-Worte selbst aus den Fingern gesogen hat. Das ist zwar durch nichts bewiesen, aber es macht sich so schön einfach.- „Brot des Lebens“ klingt gut. Solch ein Brot darf Jesus ruhig täglich mitbringen. Aber Jesus redet nicht vom Essen. Er redet von seiner Sendung und darüber, warum diese Sendung so not-wendig im wahrsten Sinne des Wortes ist. Brot ist unentbehrlich, und genauso ist Jesu Sendung unabdingbar.

Gott hat sich in unsere sehr schimpfierte Welt herabgelassen, damit seine Geschöpfe erneut zu ihm fänden. Die Nöte unseres Planeten sind nicht geringer geworden, im Gegenteil, man gewinnt eher den Eindruck, sie wüchsen täglich und stündlich. Trotzdem meinen wir, „alles im Griff“ zu haben, wir begrenzen auch die Klima-Erwärmung auf 1,5 Grad, kein Problem. Ob das Klima so nett ist, sich danach zu richten, bleibt abzuwarten. Gewiss sollen wir unseren Verstand gebrauchen, dafür haben wir ihn vermutlich mitbekommen, wir sollen etwas tun, mit Herzen und Händen. Der Schaukelstuhl als alleiniges Hilfsmittel zur Alltagsbewältigung wird, wenn ich mich recht entsinne, in der Bibel nirgends erwähnt. Aber das Manna fiel vom Himmel, nicht, weil es die Menschen verdient hätten, sondern weil Gott freundlich ist. Jesus Christus kam in die Welt, weil Gott freundlich ist, nicht, weil wir alle so prima funktionierten und uns das schließlich irgendjemand bestätigen muss.

Es gibt einen Punkt, an dem wir allein nicht weiterkommen, so wie ein Kind öfters an seine Grenzen stößt und auf die Hilfe der Erwachsenen – erst einmal – angewiesen ist. Vor Gott bleiben wir allezeit Kinder, Unmündige nämlich, die des guten Hirten bedürfen – ein weiteres vom Evangelisten Johannes überliefertes Bild. Es täte uns Nachkömmlingen einer recht selbstzufriedenen Aufklärung ganz gut, uns gelegentlich daran zu erinnern, wie schwächlich und angreifbar wir sind. Dafür bedurfte es eigentlich keiner Pandemie, das war schon vorher klar, im banalsten Alltag. Welcher Philosoph mit Zahnschmerzen bleibt philosophisch, wenn er nicht gerade im Nebenberuf Fakir ist? Welcher Mensch bewahrt seine polierte Würde, der gerade an Brechdurchfall leidet? Es sind oft sehr banale, sehr geringfügige Dinge, die uns „aus den Pantinen hauen.“ Wie soll es werden, wenn es sich um große Dinge handelt? Gott tritt für uns ein, er „gibt sich selbst daran“, wie man einst formulierte.

Wir wissen jetzt, Anfang Dezember 2021, wiederum nicht, wie wir Weihnachten feiern werden. Aber wir wissen, dass es Weihnacht wird, wir sollten es zumindest wissen, ganz ohne Blick in den Kalender. Die Weihnachtsbotschaft (manchen Christen in feindlicher Umgebung so wichtig, dass sie für den Gottesdienst-Besuch ihr Leben riskieren) wird uns alljährlich verkündet: nicht, um uns in den Konsumrausch zu treiben, auch wenn mancher das glaubt, sondern um uns zu verdeutlichen, dass wir demütig die Liebe empfangen dürfen, die Gott für uns aufwendet, dass wir das Brot des Lebens nötiger denn je haben, dass unsere Weisheit eine ziemlich begrenzte ist. Wir brauchen darüber nicht melancholisch zu werden, nein, wir dürfen aufatmen. Die Last, alles „selbst bringen“ zu müssen, die hat Gott uns in der Heiligen Nacht ein für alle Male abgenommen: Nichts hab‘ ich zu bringen, alles, Herr, bist du, wie es im Kirchenlied heißt.

In diesem Sinne – gesegnete Weihnachten, wie auch immer das Fest aussehen mag. Wir haben ja mittlerweile Übung im Ungewöhnlichen. Zum Trost sei es gesagt: Auch damals in Bethlehem gab es kein Fest, nur einen Stall. Aber die Engel sangen ihr Gloria. Sie tun es noch heute. Man sollte nur still werden und darauf horchen.

Pfarrer Anselm Babin